So ging das jedes Jahr.
Kaum dass die ersten Schneeflocken fielen.
Ein Auto nach dem anderen fuhr in die Werkstatthalle und seine Aufgabe war es, wieder einmal, die Winterreifen im Akkord aufzuziehen (immerhin gab es jetzt den Mindestlohn).
Für mehr hat es nicht gereicht; Abgangszeugnis 9. Klasse POS – es hatte niemanden gegeben, der ihn forderte und förderte.
Der Vater, der, rasend eifersüchtig, die Mutter wie eine Leibeigene hielt, und die Mutter, die sich der Wirklichkeit entfliehend, schleichend mit Alkohol umbrachte.
So stolperte er durchs Leben, von einem Aushilfsjob zum, von einer Stadt und einer Frau zur nächsten.
Als er die letzte Frau schwängerte, Zwillinge, und sie ihm den Umgang mit den Kindern untersagen ließ, erinnerte er sich an das Kind, das er vor zwölf Jahren zeugte.
Es sollte Ordnung werden, mit 45 wollte er endlich Verantwortung übernehmen, wandte sich deshalb ans Jugendamt und beantragte Umgangsrecht.
Der Jugendamtssachbearbeiter war sehr skeptisch, reserviert, durchleuchtete seine Vita bis in den letzten Winkel, um nach einem achtzehnmonatigen Antragsverfahren einer Anbahnung stattzugeben, im Einverständnis mit den Pflegeeltern, die sich seit 12 Jahren um sein Kind kümmerten.
Heute hat er eine feste Anstellung in einer renommierten Autowerkstatt für Autos der Oberklasse und sieht seine fast Vierzehnjährige mittlerweile zweimonatlich für zwei Stunden im begleiteten Umgang.
Die Personen und die Handlung der Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
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Schön dass Du mitgeschrieben hast. Viele herzliche Grüße vom See. Petra
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Gerne! Liebe Grüße, Bernd
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Ich ziehe den Hut vor denjenigen, die nach so langer Zeit Fehler der Vergangenheit nochmals wieder aufgreifen.
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Ich freue mich sehr.
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Auch mich macht die positive Wendung glücklich. Ist ja nur eine ausgedachte Geschichte, wie du im Disclaimer betonst, aber warum sollte es nicht auch im echten Leben mal klappen? 45 ist ein Alter, in dem es einem gelingen kann, sein Leben unabhängig von den elterlichen Entwürfen bewusst neu zu gestalten.
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Das echte Leben lieferte die Inspiration. Ich las die Tage von einer Fünfundsiebzigjährigen, der es erst in diesem Alter gelang, sich aus dem Schatten der Eltern zu lösen. Liebe Grüße, Bernd
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Du hast viele Geschichten, in denen du im letzten Satz alles zerschlägst, daher freue ich mich, dass sich für deinen Protagonisten ein Weg zeigt.
Ich hoffe, bei dir ist alles okay, du erscheinst mir in der letzten Zeit etwas zurückgezogen …
Liebe Grüße
Christiane
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Das echte Leben lieferte die Inspiration (neben der Wortspende). | In der ‚Psychologie heute‘, die am Freitag erscheint, ist ein lesenswerter Artikel über ‚Die Kunst des Aufgebens – Was wir gewinnen, wenn wir loslassen, statt durchzuhalten‘. Ein Ziel nicht mehr zu verfolgen, es loszulassen, bringt u.a. Trauer mit sich. Darauf reagiere ich temporär mit Rückzug. Außerdem werde ich umso stiller/ruhiger, desto mehr „Trubel“ um mich herum ist. Es ist also nicht alles okay, doch es geht weiter. Die Aufs und Abs des Lebens eben. | Liebe Grüße, Bernd
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