Er lernte sie in den 1980er Jahren als lebenslustige Mittzwanzigerin kennen – und lieben.
Doch hinter ihrer unbeschwerten Art, das merkte er bald, lauerte eine tiefe Traurigkeit und eine Unentschlossenheit.
Sie stand ganz im Schatten ihres übermächtigen Vaters, dessen Erwartungen sie – äußerlich – gerne entsprach.
Sie wollte, oder sollte, nach ihrer Ausbildung zur und Berufstätigkeit als Bankkauffrau noch BWL studieren, um dann im elterlichen Betrieb zu arbeiten und ihn später, zusammen mit ihrem Bruder, dem Techniker, übernehmen.
Eine Wohnung in der entfernten Uni-Stadt liess der Vater für viel Geld schick renovieren.
Sie bezog die Wohnung nicht und ihr Studium nahm sie nie auf; stattdessen begann sie eine Gesprächs-Therapie gegen ihre trüben Gedanken und Ängste.
Sie liebten sich zweieinhalb Jahre lang, bis Tschernobyl ihn, den Politischen, von ihr, der Unpolitischen, fort in die Arme und ins Bett einer Gleichgesinnten trieb.
Er wusste, dass er sie damit sehr verletzte, sie im Stich ließ, sie ihrer Familie ungeschützt überließ und ein schlechtes Gewissen nistete sich bei ihm ein.
Nach der Trennung lernte sie einen etwas älteren Mann kennen, heiratete, bekam zwei Kinder. –
Jahre später sah er sie einmal in einem Gottesdienst und erschrak über ihr sehr verändertes Aussehen; sie war deutlich gealtert, abgemagert und ein Schatten lag auf ihrem Gesicht.
Er hatte Mitleid mit dieser Erscheinung, doch helfen konnte er ihr nicht mehr; jedenfalls redete er es sich ein und hatte im Grunde nur Angst davor, sie anzusprechen, Angst davor, etwas zu hören, das er nicht ertrüge. –
Ihre tiefe Traurigkeit entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer schweren Depression.
Der Depression stellte sich ein Hautkrebs zur Seite; er konnte immer gut behandelt werden.
Mit leichten Abweichungen in der Wahrnehmung und Erinnerung fing es schleichend an.
Der Krebs lebte unerkannt in ihr weiter, streute und bildete Metastasen im Gehirn.
Ihr gesamtes Denken und Empfinden verengte und fokussierte sich auf den Tod.
Sie lehnte jede Behandlung ab und starb, mitte Fünfzig, nur eine Woche nach der Diagnose.
Von ihrem Ende erfuhr er aus den Todesanzeigen.
Von ihrem Leidensweg erfuhr er von gemeinsamen Bekannten.
Er fragte sich, ob dieses Finale unabwendbar und was sein Anteil daran war.
Die Personen und die Handlung der Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Inspiration: https://365tageasatzaday.wordpress.com/2019/06/30/schreibeinladung-fuer-die-textwoche-27-19-extraetueden/
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Sehr deprimierend jemandes Leben nur aus der Ferne zu betrachten ohne irgendwie was machen zu können. Wenn man sich mit jemandem das Leben geteilt hat, bleibt halt doch immer etwas da.
Grüße, Katharina
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Ja, in einer Ecke des Herzens, da gibt es einen Schrein für die Verflossenen. Noch trauriger ist, wenn man etwas hätte machen können und es nicht tat; es nicht versuchte. Danke. Liebe Grüße, Bernd
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Wenn uns etwas anrührt und Fragen aufwirft, geht es ja meist um eigene, noch irgendwie offene Geschichten. Von daher kann ich die Gedanken des Mannes schon verstehen.
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Es hingen wohl noch lose Enden herum. Der abrupten Trennung hätte noch ein „ordentlicher“ Abschied folgen können. Danke. Liebe Grüße, Bernd
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Ich finde, seine Gedanken um die Ex machen deinen Protagonisten zumindest menschlich, auch wenn jeder natürlich selber die Verantwortung für sein eigenes Leben trägt.
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Es ist ein schmaler Grat, auf dem verantwortliches Handeln (Tun oder Unterlassen) balanciert; es kann zu viel oder zu wenig sein. Aber nach einer (abrupten) Trennung, der kein Zerwürfnis vorausging, so zu tun, als kenne man den Anderen nicht mehr, wäre eindeutig zu wenig. Danke. Liebe Grüße, Bernd
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Sie unentschlossen, er in der Konsequenz dann mit Trennung zu einer anderen und nach 25 Jahren wieder Wehmut? Ich dachte immer, Männer können einfacher mit „alten“ Geschichten abschließen.
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Wenn „Männer“ einmal die anerzogene harte Schale ablegen, dann zeigt sich ein farbenfroher Strauß an Gefühlen und Empathie. Und unter Männern gibt es viele (Hoch-)Sensible (an dieser Stelle verweise ich gerne auf Tom Falkensteins „Hochsensible Männer – mit Feingefühl zur eigenen Stärke). Liebe Grüße, Bernd
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Wie bedrückend (gut geschrieben). Ich kann ihn allerdings nur bedingt verstehen, denn jeder ist für sich selbst verantwortlich – er für sich und sie für sich. Hättewärewenn ist in meinen Augen müßig…….
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Danke. Wir trösten und entlasten uns mit dem Gedanken, jeder sei für sich selbst verantwortlich. Doch, was wird Erich Fromm zugerechnet: „Jemanden zu lieben ist nicht nur ein starkes Gefühl, es ist auch eine Entscheidung, ein Urteil, ein Versprechen.“ Und es ist m.E. ein gutes Zeichen, wenn von einem gebrochenen Versprechen wenigstens ein bisschen Schuldgefühl übrig bleibt. Liebe Grüße, Bernd
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Ich kann deinen „Er“ gut verstehen, ich würde mich das auch fragen. Da kann man noch so viel davon sprechen, dass jede*r für sich selbst verantwortlich ist.
Liebe Grüße und danke
Christiane
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Danke. Ja, da taucht am Horizont so etwas wie Verantwortung(sgefühl) auf. Liebe Grüße, Bernd
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