Morgens trödelte Josefine, um als Letzte ihren abgesonderten Platz, links hinten im Klassenraum des Lyzeums, einzunehmen; nach der letzten Stunde trödelte sie, um sich weit nach den anderen auf den Heimweg zu machen.
Es nutzte ihr nichts: sie fingen sie immer wieder ab, widerstandslos ließ sie sowohl die Klassenkeile als auch die Beschimpfungen als Drecksau über sich ergehen.
Ihren Turnverein durfte sie nicht mehr besuchen, nicht mehr im See baden, wandern war nur in Kleingruppen möglich.
Ins Kino, das sie so liebte, zum Schwimmen ging sie nur in Begleitung eines Erwachsenen.
Josefine erhielt als zweiten Vornamen Sara und die Zeit der Klassenkeile war vorüber, denn sie durfte das Lyzeum nicht mehr besuchen; nach einer kurzen Wartezeit bekam sie einen Platz in einer Schule, in der sie unter sich waren.
Kino-, Oper-, Theater- und Konzertbesuche verbot man, und auch ins Schwimmbad oder in die Badeanstalt durften sie nicht mehr gehen; selbst ihr Radio wurde beschlagnahmt.
Das Verbot, abends nicht mehr auf die Straße gehen zu dürfen, wäre überflüssig gewesen, sie taten es schon lange nicht mehr; aber sie mussten sich mit dem Einkaufen beeilen, dies war ihnen nur noch zwischen 16 und 17 Uhr erlaubt.
Schließlich verbot man ihnen das Telefonieren, Papa und Mama wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet; sie mussten einen gelben Stern tragen
Mieze, ihr Katze wurde eingeschläfert, nachdem man ihnen auch die Haustiere verbot; dann ging alles Schlag auf Schlag: Zeitungen und Zeitschriften durften sie nicht mehr kaufen, öffentliche Verkehrsmittel wurden ihnen verwehrt, sie mussten alle optischen und elektrischen Geräte, Fahrräder, Schreibmaschinen und Schallplatten abliefern, Frischmilch durften sie keine mehr kaufen und auch ihre Schule durfte sie nun nicht mehr besuchen.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass ein gutaussehender junger Mann ihnen befahl, sich nackt auszuziehen, und er schwammig formulierte: „ihr dürft nun duschen oder so“ …
Die Personen und die Handlung der Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Inspiration: https://365tageasatzaday.wordpress.com/2021/03/07/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-10-11-21-wortspende-von-berlinautor/ | Christiane | abc.etüden
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Heftig, aber soooo wichtig, gerade jetzt, wo AfD und NPD wieder ihr Maul aufreissen.
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Genau. Vielen Dank! Liebe Grüße
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Ja, es ging alles schleichend, erst das eine Verbot, dann das andere, das sollte man eben auch wissen.
Ja, eine heftige Etüde, aber auch das muss eben Platz haben – gegen das Vergessen!
Danke und liebe Grüße
Ulli
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Danke! Liebe Grüße, Bernd
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Ich habe meiner Großnichte bei deren Abschlussarbeit und Präsentation zu Anne Frank mit meinen Quellen und Recherchen zugearbeitet und so sind wir beide eingetaucht in die vielen kleinen und großen Entrechtungen und Entmenschlichungen jener Zeit. Das Entsetzen packt mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich mich mit diesem Thema beschäftige. Wir haben lange nach der Präsentation noch darüber gesprochen und das junge Mädchen ist spürbar gewachsen und gereift dadurch und hat politisches Bewusstsein entwickelt.
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Ich bin immer wieder entsetzt, wenn in den 1980er und später Geborene, einen Schlußstrich unter die Erinnerung ziehen möchten. Wir „müssen“ uns so erinnern, dass es die Nachgeborenen nicht lähmt, sondern den Geist einer Sophie Scholl weckt. LG
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Mein Professor in Sozialkunde und Geschichte wollte dies bereits 1970 und war der Meinung, so etwas könne eh nie mehr geschehen. Mein Beharren auf der These im mündlichen Abi, dass dies jederzeit wieder möglich sei, wenn kontrollsuechtige Spießer und Menschen mit schwachem Selbstbewusstsein, die sich unter Wert behandelt fühlten, Machtbefugnisse erhielten und man deshalb sehr aufmerksam sein müsse, brachte mir erwartungsgemäß eine 4 ein. Ich habe es nicht bereut. Denn schauen wir uns doch heute um.
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Es ist davon auszugehen, dass es Menschen gibt und geben wird, die das Unsägliche als Herrschaftsinstrument implementieren möchten.
Einstein soll gesagt haben: „Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.“
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Krass, da will mir der Morgenkaffee im Hals steckenbleiben …
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Ja, krass. Ich habe noch nicht einmal alles aufgezählt. Es übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Und in jenem Augenblick, in dem diese Vorgänge vergessen werden, wird die Wiederholung ihren Anfang nehmen. LG
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Elegant gelöst. Am Anfang dachte ich noch, sie würde sich in der Gegenwart bewegen, aber dann war es ein Fahrstuhl in die Vergangenheit. Von diesen konkreten täglichen Einschränkungen hatte ich allerdings nur teilweise gehört … 😥
Danke dir.
Müde Morgenkaffeegrüße, aber mit Kaffee, dem unvermeidlichen 😁🌧️☕🥐👍
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Danke! Das langsame Dämmern. Ich habe unzählige Filme oder Biografien über und aus dieser Zeit gesehen/gelesen. Und einzelne Entrechtungen/Entmenschlichungen sind dabei in Erinnerung geblieben, aber nicht in dieser Heftigkeit/Häufigkeit. Ich habe Arbeitsmaterialen für Berliner SuS gefunden, die diese Ungeheurlichkeiten chronologisch zusammengestellt haben und habe mich derer bedient. Kaffee setze ich jetzt auf, Liebe Grüße, Bernd
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Das ist interessant, dass es das als Unterrichtsmaterial gibt, auch, dass du Recherche betreibst …
Kaffeegrüße, verschlafen heute! :-D
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Gerade bei heftigen Inhalten ist es mir wichtig, den Realitätsgehalt zu checken. Ah, verschlafen an einem Arbeitstag hasse ich, dann ist der Tag aus seinem Rhythmus. LG
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